“Infinity Dress” – ein Kleid, viele Tragemöglichkeiten

Infinity Dress vor dem Säumen

Infinity Dress vor dem Säumen

Vor einigen Wochen kam eine junge Dame aus dem Familienkreis wegen eines modischen Problems zu mir: zu etlichen Hochzeiten eingeladen, stand sie vor dem allen weiblichen Wesen bekannten “was-zieh-ich-bloß-an”-Problem.

Sie brachte auch gleich eine Idee mit; ein Kleid, das im Web unter den Namen “Infinity Dress”, “Convertible Dress” oder “One Seam Dress” (“Eine-Naht-Kleid”) gefunden wird.

Da das Kleid im Web mit Versand über 200 EUR kostet, wollte sie es gerne selbst nachzunähen versuchen, traute sich aber alleine nicht so recht dran.

Damit waren die Weichen für ein kreatives Nähwochenende gestellt. 🙂

“Infinity Dress” – das “Unendlichkeitskleid”

Seinen Namen verdankt dieses Kleid seiner ungewöhnlich großen Vielfalt an Tragemöglichkeiten. Auf Youtube finden sich ganze Filme, in denen die vielen verschiedenen – zum Teil sehr eleganten, zum Teil weniger attraktiven – Varianten gezeigt werden.

Was ist ein “Infinity Dress”

Das Kleid besteht grundsätzlich aus einem Rock mit zwei sehr langen, angenähten Bändern. Die Bänder bilden das Oberteil, und je nachdem, wie sie um den Oberkörper drapiert werden, entstehen völlig verschiedene Formen.

Die meisten Tragevarianten zeigen sehr viel Rückendekolleté. Ob die im Web gezeigten schulterfreien Varianten wirklich stabil sitzen, wage ich zu bezweifeln.

Sofern man nicht von hinten nach vorn wickelt und sehr gezielt alles untendrunter mit den Stoffbahnen bandagiert, ist das Tragen eines BHs unter der Originalversion des Kleids nahezu unmöglich.

Schnittmuster + Nähanleitung:
sorgfältige Schneiderei oder schneller Knorz?

Im Web findet man diverse Anleitungen, das Kleid zu nähen. Die meisten liefern nur sehr vage Maßangaben, und bei der Verarbeitung beschränken sich etliche darauf, lediglich die Bänder an das Taillenloch des Rocks zu nähen. Rock schneiden, Bänder dran, fertig!

Mit dieser super-einfachen Technik kann man zwar blitzschnell ein Kleid zaubern; wenn frau allerdings längerfristig Spaß an ihrem Infinity Dress haben möchte, kann ich nur zu etwas mehr Sorgfalt und gründlicherer Verarbeitung raten.

Folgende nähtechnischen Ergänzungen halte ich für sinnvoll:

  1. Oberteil BH-fähig gestalten:
    Mit einem separaten, trägerlosen Top, das unter dem Kleid getragen werden kann, ist dieses Problem sehr einfach zu lösen. Wer es nicht möchte/braucht, läßt es weg. Der Stoff dafür fällt aus den Verschnittresten des Rocks ab.
  2. Ausleiern des Rock in der Taille verhindern:
    Statt des unbearbeiteten Taillenausschnitts ein schmaler Bund mit Gummizug.
  3. Unterrock ergänzen
    Ein Halbrock aus sehr feinem Futterstoff sorgt dafür, daß der Rock nicht an den Beinen/Strümpfen anpappt oder hochkrabbelt und zudem schöner fällt.

Stoff für das variable Kleid

Geeignet sind alle Arten von dünnen Jerseystoffen (Wirkware/Strickstoff), am besten mit einem kleinen Anteil Elasthan, der die Formstabilität unterstützt.

Wir entschieden uns für einen Viscose-Stretch-Jersey mit 5% Elastan. Für ein bodenlanges Kleid mit Tellerrock (= ganzer Kreis) liegt der Stoffverbrauch bei 140 cm Stoffbreite bei etwa 8 Metern. Preislich liegen solche Stoffe etwa zwischen 6,50 und 12 EUR je Meter.

Der neue Stoff wanderte zunächst bei 30 Grad Feinwäsche in die Waschmaschine, dann in den Trockner und überstand beides erfreulicherweise völlig unbeschadet und knitterfrei.

Zuschnitt Rock

Für die gewünschte Rocklänge von 125 cm werden zwei Halbkreise zugeschnitten. Dazu legt man den Stoff im Stoffbruch und schneidet 2x einen doppelten Viertelkreis.

Taillenausschnitt berechnen:
1/6 der Taillenweite + Nahtzugabe = Radius für die Taillenweite

Rocksaumlänge berechnen:
ab Taillenausschnitt gemessen: gewünschte Rocklänge + Naht-/ bzw. Saumzugabe = Außenkante Kreis

Gesamtradius = Taillenradius + Rocklänge + Saumzugaben

Futterrock:
Als Glockenrock (= Halbkreis) zuschneiden, um das Kleid nicht unnötig schwer zu machen.

Taillenausschnitt berechnen:
1/3 der Taillenweite + Nahtzugabe = Radius für die Taillenweite

Rockbund:
gewünschte Breite + Nahtzugabe x 2 in Taillenlänge + Nahtzugabe zuschneiden.

Falls der Futterrock separat getragen werden soll, auch für diesen einen Bund zuschneiden.

Verarbeitung Rock

Jerseystoffe immer mit Kugelspitznadeln nähen! Nähte in Laufrichtung des Stoffs (= parallel zur Wirk-/Webkante) können mit geradem Stich genäht werden, für alle anderen verwenden Sie einen Elastikstich. Probieren Sie ggf. an einem kleinen Stoffrest die Sticheinstellung aus, damit die Elastizität des Stoffes nicht beeinträchtigt wird.

Seitennähte am Rock und am Futterrock schließen. Den Rockbund jeweils rechts auf rechts an den Taillenausschnitt heften und mit Elastikstich festnähen. Wenn Sie den Unterrock nicht separat lassen möchten, wird er gleichzeitig mit dem Rock am Bund angenäht.

Rockbund nach innen auf die gewünschte Breite umlegen und ganz knapp unter dem Bund mit Elastikstich festnähen. Ein kleines Stückchen der Naht offen lassen, damit Sie dort den Gummi einziehen können. Gummiband auf Taillenlänge einziehen und mit einer Sicherheitsnadel fixieren.

Bänder zuschneiden und verarbeiten

Für das Kleid im Bild – etwa Größe 38 – haben wir die Bänder auf 28 cm Breite und 2,70 m Länge zugeschnitten. Faustregel für die Länge ist 1,5 x Körpergröße.

Die Breite richtet sich nach der Figur der Trägerin. Je üppiger die Oberweite, desto breiter sollten die Bänder sein, und umso weiter sollten sie sich vorn in der Mitte überlappen, damit man nicht ungewollt im Freien steht.

Der Zuschnitt erfolgt am Stück, in Laufrichtung des Stoffs. Zugunsten der besseren Drapier- und Drehfähigkeit haben wir darauf verzichtet, die Bänder seitliche zu säumen. Achten Sie daher auf sehr sauberen, geraden Zuschnitt, ggf. mit einer Schablone.

Bänder befestigen

Wir haben die Bänder zunächst mit großen Sicherheitsnadeln befestigt, um den optimalen Sitz in verschiedenen Bindevarianten auszuprobieren. Sie überlappen einander in der vorderen Mitte um 8 cm und reichen seitlich etwas über die Seitennähte des Rocks nach hinten hinaus.

Zum Annähen ziehen Sie das Gummiband noch einmal aus dem Taillenbund. Nähen Sie die Bänder von rechts auf der Naht des Rockbundes auf.

Gummiband wieder einziehen und Gummi aneinandernähen.

Top zuschneiden und verarbeiten

Für das Top schneiden Sie ein Rechteck zu:
Breite: Umfang über der Brust unter der Achsel gemessen
Höhe: gewünschte Länge ab Achsel + Saumzugabe unten + Saumzugabe für Gummizug oben

Längsnaht schließen. Oben breit breit genug säumen, daß Sie ein Gummiband einziehen können. Unten säumen.

Infinity Dress fast fertig

Zugegeben, das war nun deutlich aufwendiger, als nur die Bänder irgendwie festzutackern und das Kleid anzuziehen. Andererseits brauchen Sie sich nun nicht darum zu sorgen, daß der überaus dehnbare Stoff in der Taille im Laufe eines Abends immer weiter der Schwerkraft des bei einem langen Kleid gewichtigen Rocks folgt und ein ungewolltes hinteres Dekolleté freilegt.

Aushängen lassen!

Schauen Sie sich die Kleider auf Youtube und in Blogs an – bei den meisten “zipfelt” der Saum, was für mein Auge besonders bei kurzen Kleidern sehr unschön aussieht.

Wenn Ihnen eine gerade Saumlinie nicht wichtig ist, säumen Sie Ihr Kleid um, fertig. Sie sollten allerdings damit rechnen, daß der Saum sich bei der ersten Gelegenheit höchst ungleichmäßig nach unten verändert.

Sofern Sie Wert auf einen geraden Saum legen, ist nun Geduld angesagt, denn rund geschnittene Röcke sollten mindestens (!) 2–3 Tage aushängen. Heißt: befestigen Sie den Rockbund in gerader Linie mit Wäscheklammern an der Querstrebe einen Kleiderbügels und hängen Sie ihn so auf, daß er völlig frei hängt. Der Stoff wird sich dabei deutlich verziehen, weil er an jeder einzelnen Stelle des Rocks einem anderen Winkel zu seiner eigentlichen Laufrichtung hängt. Beim aktuellen Kleid war die größte Ausdehnung etwa 20 cm!

Infinity Dress fertigstellen

Sie waren geduldig und haben den Rock aushängen lassen? Das blaue Kleid oben hatte volle zwei Wochen Zeit!

Der Weg zum geraden Saum heißt Abstecken. Dazu brauchen Sie Hilfe; alleine geht es nicht. Messen ist keine gute Alternative, weil Sie dabei zwar rundherum eine gleiche Rocklänge abstecken, aber nicht Ihre Körperrundungen berücksichtigen können.

Sofern Sie einen Rockabrunder besitzen, wissen Sie wahrscheinlich damit umzugehen. Für alle anderen gilt: Die stolze Besitzerin des Kleides zieht es an, am besten mit allem drunter, was sie normalerweise tragen würde.

Stellen Sie sich gerade und mit geschlossenen Füssen hin, bei einem langen oder dreiviertellangen Kleid am besten auf einen Hocker. Die absteckende Hilfe mißt mit einem Zollstock vom Boden zur gewünschten Saumkante und markiert sie mit waagerecht gesteckten Stecknadeln.

Am besten arbeitet die Hilfe um den Saum herum, während Sie ruhig stehenbleiben. Kontrollieren Sie, bevor Sie Ihre Absteckposition verlasen, ob die Nadeln dicht genug stecken, daß Sie damit die Saumlinie schneiden können.

Schneiden Sie die Rockkante 1 cm unterhalb der Nadeln ab. Stecken und heften und bügeln Sie den Saum, bevor Sie säumen, damit Ihnen beim Nähen nichts verrutscht. Falls Sie unsicher sind, ob alles gerade ist, vor dem Nähen nochmal anziehen und kontrollieren!

Tragevariationen für das Infinity Dress

Ich stelle hier nur die Variante des Infinity Dress auf dem Foto vor. Beide Oberteilbänder wurden gerade nach oben gezogen und durch einen Armreif gefädelt. Von da führen die Stoffbahnen nach außen über die Schultern und werden im Rücken überkreuzt um die Taille geschlungen.

Zeitaufwand für das Infinity Dress

Mangels guter Anleitungen für das Kleid haben wir mehr Zeit zum Ausprobieren als zum eigentlichen Nähen gebraucht. Eine geübte Hobbyschneiderin sollte ein Infinity Dress in der vorgestellten, etwas aufwendigeren Form mit Bund, Top + Unterrock in etwa 6–8 Stunden zuschneiden, nähen und fertigstellen können.

4 Gedanken zu „“Infinity Dress” – ein Kleid, viele Tragemöglichkeiten

  1. Elke Vogel

    Vielen Dank. Ich wollte heut (m)eine Infinity nähen, allerdings auch nicht nur mit 2 – 3 Nähten (habe noch vor ewigen Zeiten das Nähen gelernt und da legte man noch mehr Wert auf Versäubern undundund.)
    Diese Anleitung ist wie für mich gemacht.
    Auch lese ich hier das erste Mal, dass ich für den Rockteil keine 6 m brauchte (was ich nie verstanden habe).
    Da ich noch nie mit Jersey genäht habe, ist der Hinweis mit dem Aushängen für mich ebenfalls von Vorteil.
    Vielen Dank

    Antworten
    1. Hildegard Fuchs Beitragsautor

      Hallo Frau Vogel,
      danke für Ihren Kommentar.
      Aushängenlassen ist für alle Stoffe bei rundem Zuschnitt (Glockenrock, Tellerrock) notwendig, nicht nur bei Jersey, da der Stoff nicht rundherum in gleicher Laufrichtung fällt.

      Antworten
  2. Heike Kaubisch

    Eine wunderbare professionelle und trotzdem verständliche Anleitung! Meine Nähausbildung liegt noch vor der Erfindung von Jersey. Trage mich schon lange mit dem Gedanken, wieder mal ein ganzes Kleid zu schneidern. Mit dieser Anleitung wird es wohl mal werden. Die Idee, einen Tellerrock zu verwenden ist klasse. Habe in anderen Schnittmustern eine Verarbeitung mit gerade geschnitten Rechteck gesehen. Daher wohl auch der Stoffverbrauch von 6m. Da wird der Stoff auf die Taillienweite eingelkräuselt. Was gerade bei molligeren Damen sehr unvorteilhaft ist.
    Ein dickes Dankeschön für die Beschreibung. Ich bin begeistert!

    Antworten
    1. Hildegard Fuchs Beitragsautor

      Vielen Dank für die Blumen!

      Statt eines Tellerrocks – der bei etwas molligeren Figuren auch relativ stark aufträgt, ist natürlich auch ein Glockenrock möglich, der als Halbkreis mit 1/3 als Radius für den Taillenumfang zugeschnitten wird. Er braucht deutlich weniger Stoff und wird damit auch weniger schwer.

      Gutes Gelingen!

      Antworten

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert